- Weltkrieg: Krieg von neuer Dimension
- Weltkrieg: Krieg von neuer DimensionAls Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete der amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan 1981 den Ersten Weltkrieg. Dass sich dieser Anfang August 1914 ausbrechende Krieg dazu entwickeln sollte, konnten die beteiligten Völker zu Beginn nicht ahnen. Sie waren vielmehr in Hochstimmung, siegesgewiss, jedes Land glaubte sich im Recht. Nach Beginn der Kampfhandlungen kam jedoch bald die Ernüchterung. Als Erstes stellte sich heraus, dass die Hoffnung auf einen kurzen Krieg, die Heimkehr der Soldaten an Weihnachten, getrogen hatte. Mitte September erstarrte an der Westfront, später auch im Osten, der Bewegungs- zum Stellungskrieg; der Krieg sollte von da ab noch über vier Jahre andauern. Die zweite Ernüchterung betraf den Charakter des Krieges, der mit dem herkömmlichen Kriegsbild kaum noch etwas gemein hatte und alle bisherigen Erfahrungen entwertete. Die verheerende Feuerwirkung des Maschinengewehrs zwang die Infanterie in den Schützengraben; um die fest gefügten Fronten zu durchbrechen, setzten die Gegner eine alles bis dahin übertreffende artilleristische Feuerkraft ein. Die sich daraus entwickelnden Materialschlachten stellten bislang unbekannte Anforderungen an die Soldaten. Der Tod auf dem Schlachtfeld nahm eine andere Gestalt an: Er kam in bis dahin unvorstellbarer Häufung, Grausamkeit und erschreckender Anonymität. Symbol hierfür wurden die Schlachten bei Verdun und an der Somme 1916 sowie in Flandern 1917. Für die dritte Ernüchterung - die folgenschwerste - war die politische Führung verantwortlich. In Deutschland, aber auch in Russland begannen in der zweiten Kriegshälfte immer mehr Soldaten zu glauben, dass ihr Einsatz nicht belohnt werde; hierauf wollen wir am Ende zurückkommen.Vom Bewegungskrieg zum StellungskriegDie deutsche Kriegsplanung, die auf den früheren Generalstabschef Schlieffen zurückging, war darauf angelegt, zunächst die französischen Armeen durch eine riesenhafte Umfassungsbewegung schnell niederzuringen und sich dann gegen Russland zu wenden. Nach Besetzung fast ganz Belgiens und weiter Teile Nordostfrankreichs scheiterte die Operation jedoch Mitte September im Raum zwischen Paris und Verdun, für die Franzosen das »Wunder an der Marne«. Im Osten verhielten sich die Deutschen zunächst defensiv, der erwartete russische Vormarsch auf Ostpreußen wurde in der Schlacht bei Tannenberg abgewiesen. 1915 versuchten im Westen die Ententemächte Großbritannien und Frankreich die deutsche Front zu durchbrechen, in mehreren erfolglosen Angriffen verloren sie Hunderttausende von Soldaten. Im Osten ergriff das deutsche Heer die Offensive und drängte die russischen Linien weit zurück. Im Mai 1915 griff Italien in den Krieg ein, ohne gegen Österreich-Ungarn an der Alpenfront und am Isonzo Boden gewinnen zu können. Hinter der Front setzte ein fieberhaftes Nachdenken ein, gesucht wurden neue Waffen und Personalersatz. Giftgas, zuerst von Deutschland eingesetzt, brachte nach anfänglich verheerender psychologischer Wirkung später nur noch begrenzte taktische Vorteile. Als auf lange Sicht erfolgversprechender erwies sich die Entwicklung des gegen Maschinengewehrfeuer immunen Panzers durch die Briten.Der totale KriegIm Februar 1916 begann bei Verdun eine vom deutschen Generalstabschef Erich von Falkenhayn in der Absicht geplante Schlacht, das gegenüber Deutschland bevölkerungsschwächere Frankreich »weißbluten zu lassen«, aber die deutschen Angreifer erlitten bis zum Ende der Kämpfe im Dezember mit 340 000 Mann fast so hohe Verluste wie die Franzosen. Ebenfalls keine Veränderung des strategischen Patts brachten der britisch-französische Durchbruchsversuch an der Somme, die russische Brussilow-Offensive in Wolhynien sowie die einzige mit Großkampfschiffen geführte Seeschlacht des Krieges am 31. Mai vor dem Skagerrak; auch nach dieser konnte Großbritannien die Fernblockade Deutschlands zur See aufrechterhalten. Im August traten Generalfeldmarschall Hindenburg und General Ludendorff an die Spitze der Obersten Heeresleitung. Diese unterwarf unter dem Namen »Hindenburgprogramm« die Wirtschaft einer straffen Lenkung und führte die allgemeine Dienstpflicht der Männer ein; der Krieg wurde zum totalen Krieg.1917 war das Jahr der Krise und des Umschwungs. Der Sinn des Krieges war angesichts der Pattsituation, der außerordentlichen Opferzahlen und des Hungers, der vor allem die Menschen in Mitteleuropa quälte, nicht mehr zu vermitteln. Unruhen, die ersten Streiks und Befehlsverweigerungen läuteten das neue Jahr ein. Das Deutsche Reich setzte nun alles auf eine Karte und erklärte am 1. Februar den uneingeschränkten U-Boot-Krieg in der Hoffnung, Großbritannien binnen fünf Monaten niederringen zu können. Dies erwies sich als der schwerste Fehler des ganzen Krieges; zum einen konnten die Briten nicht friedensbereit »torpediert« werden, zum anderen traten die USA im April an der Seite der Entente in den Krieg ein - für die Mittelmächte der Anfang vom Ende, auch wenn die Westfront in den schweren Abwehrkämpfen des Jahres 1917 standhielt.In Deutschland herrschte blanker Hunger, die Unterernährung führte zu einer dreiviertel Million zusätzlicher Todesopfer. Selbst große Teile des Mittelstands einschließlich der Beamten verarmten rasch. Der Kaiser verweigerte überfällige politische Konzessionen wie die Parlamentarisierung des Reiches und gleiches Wahlrecht in Preußen. Militär und Heimatfront sahen sich um die Früchte ihrer Anstrengungen geprellt, die dritte Ernüchterung stellte sich ein. Der gesellschaftliche Konsens begann zu zerfallen. Im Januar 1918 streikten in Deutschland eine Million Arbeiter. In Russland beseitigten zwei Revolutionen im Februar und - nach altem russischen Kalender - im Oktober das herrschende System, das Zarenreich brach zusammen. Da den von Lenin geführten Bolschewiki die Sicherung ihrer in der Oktoberrevolution errungenen Macht wichtiger war als die Fortsetzung des Krieges, schlossen sie am 3. März 1918 in Brest-Litowsk Frieden mit den Mittelmächten.Das katastrophale EndeAnfang 1918 wollte das Deutsche Reich im Westen in einer letzten Kraftanstrengung die Kriegsentscheidung erzwingen. Von März bis Juli wurden in mehreren Offensiven nochmals Geländegewinne erzielt, aber nun zeigte sich die restlose Erschöpfung der Truppe. Mitte Juli gingen die Alliierten zum Gegenangriff über. Unter dem Eindruck eines schweren Fronteinbruchs bei Amiens am 8. August, dem »schwarzen Tag« des deutschen Heeres, unterrichtete Ludendorff die überraschte Reichsleitung darüber, dass der Kampf verloren sei. Am 29. September verlangte die Oberste Heeresleitung sofortigen Waffenstillstand. Nur zwei Tage später erklärte Ludendorff aber, die Niederlage sei den Versagern von Etappe und Heimat geschuldet; die verhängnisvolle »Dolchstoßlegende« war geboren. Am 3. Oktober bat der neue Reichskanzler, Prinz Max von Baden, den amerikanischen Präsidenten Wilson um Waffenstillstand. Als dieser seine Unterschrift von der Abdankung des Kaisers abhängig machte, versuchte die Oberste Heeresleitung, den militärischen Widerstand fortzusetzen. Die militärische Krise erweiterte sich zur politischen, die Ausrufung der Republik machte am 9. November 1918 dem Kaiserreich schließlich ein Ende. Zwei Tage später unterzeichneten deutsche Unterhändler in Compiègne den Waffenstillstand.Zur »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« wurde der Erste Weltkrieg aus drei Gründen. Erstens zerstörte er die überlieferten zivilisatorischen Standards und stürzte die Zeitgenossen in eine tiefe Sinnkrise. Zweitens verstärkte er die innergesellschaftlichen Differenzen, indem er altbekannten Konfliktlinien neue hinzufügte. Drittens hinterließ der Zerfall des Russischen und des Osmanischen Reichs sowie der Habsburger Monarchie eine Fülle von Staaten, die für einen Großteil der Europäer weder innen- noch außenpolitisch legitim waren. Neuartige politische Heilslehren und politische Systeme versuchten Antworten auf die Verwirrungen und Probleme. Diese Antworten waren ausnahmslos aggressiv. Deshalb kehrte jahrzehntelang kein Friede in Europa ein.Prof. Dr. Christof Dipper
Universal-Lexikon. 2012.